- Sonntag, 29 Juli 2012, 00:08 Uhr | Lesezeit ca. 5 Min.
Vom Meister persönlich empfohlen
Spitzengeschichte 44
Betrübt waren die Ratsherren in ihren Sesseln versunken. Viktor Irmisch, der gute Stadtkantor zu Plauen, hatte das Zeitliche gesegnet, anno domini 1726, den 8. Juni. Ein Nachfolger musste her, was an sich kein Problem gewesen wäre. Denn Bewerber um den Posten, der zwar kein üppiges, aber immerhin ein regelmäßiges Einkommen versprach, standen reichlich bereit.
Aber welcher war der richtige? Nur auf ihr musikalisches Gefühl verlassen wollten (und konnten?) sich die Stadtväter nicht. Also musste ein Experte konsultiert werden. So hatte es der Rat schon beim selig Verstorbenen gehalten, und so war man damals gut gefahren.
Doch nicht irgendein Notenschreiber schwebte den Honoratioren als Berater vor, nein, es sollte ein „berühmter Musico“ sein. Und wer kam da eher in Frage als der beste aller sächsischen Tonschöpfer, als Johann Sebastian Bach, Thomaskantor zu Leipzig? Voller Zuversicht setzte der Rat der Stadt Plauen am 3. September 1726 einen Brief auf an den „Wohl- Edlen, Großachtbaren und Wohlgelahrten“ Herrn Bach in Leipzig, ob der denn nicht „das ein oder andere Subjectum seines Orths zu recommendieren belieben“ könne.
Der „Wohlgelahrte“ war um eine qualifizierte Empfehlung nicht verlegen, und da man in der Aufklärung zwar einen etwas umständlichen, jedoch überaus noblen Umgangston pflegte, beschied er den „Hoch- und Wohl-Edlen, Hoch- und Wohlgelahrten, Vesten, auch Hoch- und Wohlweisen Herren, Hoch- und Wohlgeneigten Gönnern“ – also schlicht dem Stadtrat – in zwei Antwortschreiben vom selben Monat, dass er da schon jemanden im Auge hätte. Sein Favorit wäre „in compositione gut bewandert, … fernerhin spielte Er eine gute Orgel und Clavier, ist fertig auf der Violin, Violoncello, u. anderen Instrumenten … (und) singet einen wo nicht allzu starcken, doch artigen Baß …“ Die Referenz machte neugierig, der Rat war interessiert. Nur hatte die Korrespondenz aus der Messestadt einen kleinen Schönheitsfehler: Der Name des Kandidaten fehlte.
Ein paar Tage blieben die Plauener Stadtväter im Ungewissen, dann beendete der Aspirant selbst das Rätselraten. Anfang Oktober 1726 schickte der junge Mann ein Bewerbungsschreiben, in dem er sich auf die Empfehlung seines berühmten Gönners bezog. Der Absender hieß Georg Gottfried Wagner, war 28 Jahre alt, hatte die solide Ausbildung der Thomasschule genossen, anschließend Theologie studiert und in Aufführungen von Bach als Vorgeiger mitspielt. Dies alles hatte der junge Mann offensichtlich zur vollen Zufriedenheit des Meisters getan. In einem weiteren Schreiben an den Plauener Stadtrat legte Bach daher nochmals ein gutes Wort für Wagner ein und vergaß auch nicht zu bemerken, dass „erwehnter H. Wagner … annoch ledig u. unbeweibet“ wäre.
Ob gerade dieser Hinweis den Rat vollends in seinem Entschluss bestätigte, Wagner zum Vorspielen nach Plauen zu bestellen? Wie auch immer, man wollte den jungen Mann jedenfalls sehen und vor allem hören. Indessen: Wohin sollte die Depesche gehen? In Plauen wusste niemand die Leipziger Adresse Wagners. Erneut wurde Bach bemüht, mit der Bitte, Wagner die Einladung zum Probespielen zu überbringen. Der Thomaner- Chef zeigte sich ein weiteres Mal gefällig und ließ obendrein noch einen Brief mit einem empfehlenden Zeugnis der Thomasschule folgen. Auch Wagner schrieb nach Plauen und sagte zu, mit dem Postwagen anzureisen. Somit wäre die Sache in trockenen Tüchern gewesen – wenn nicht plötzlich der Stadtrat an der Unterbringung des Gastes geknausert hätte. Die Logis in einem Wirtshaus, „woselbst man immer mehr anschreibe“, wäre zu teuer, moserten die Herren. Erst als geklärt war, dass Wagner „für 30 Groschen wöchentlich“ in einem privaten Haushalt „zu Tisch“ kam, stand dem Gastauftritt nichts mehr im Wege.
Die Prüfung setzte sich zusammen aus dem Vortrag einer Eigenkomposition sowie Instrumentalspiel und Gesang. Seine beiden Konkurrenten schlug Wagner dabei mühelos aus dem Feld: Kandidat Weißfleck aus Schleiz mangelte es am Komponieren, und Bewerber Gruner aus Oelsnitz rasselte offensichtlich so glatt durch den Test, dass es der Rat nicht einmal mehr für nötig hielt, ihm das Prüfungsergebnis schriftlich mitzuteilen. So wurde Georg Gottfried Wagner trotz einer etwas schwachen Stimme, wie Superintendent Herrmann beanstandete, am 9. Dezember 1726 zum Kantor von Plauen bestimmt. Sein Gehalt orientierte sich an dem des Vorgängers. Die größten Posten waren: 25 Gulden aus der Gemeindekasse, zehn Gulden aus der Kämmerei, ausgezahlt je zur Hälfte zu Walburgis (30. April) und Michaelis (29. September). Dazu gab es an Naturalien zehn Scheffel Korn und zehn Klafter Holz*. Einen weiteren, nicht geringen Teil seines Einkommens verdiente sich der Kantor selber dazu – bei Begräbnisfeiern. Zu den Spitzenverdienern gehörte der frischgebackene Stadtkantor mit diesen Einkünften weiß Gott nicht. Anfang 1729 klagte Wagner, dass sein Jahreseinkommen kaum 160 Gulden betrüge, er manche Woche „privatim“ nicht viel mehr als zwei Groschen und sechs Pfennige einnähme. Für dieses Geld gab’s damals drei Pfund Brot.
Seine äußerst bescheidenen finanziellen Möglichkeiten hinderten den Stadtkantor dennoch nicht, schon im Jahr nach der Amtsübernahme einen Hausstand zu gründen. Mit seiner besseren Hälfte Rosine Elise machte der wenig bemittelte Kirchenmusiker keine üble Partie, die Angetraute war die Tochter des Bürgermeisters und „Stadtphysici“ (Arzt) Georg Melchior Widemann.
Noch im Jahr der Vermählung brachte Elise den ersten Sohn zur Welt, danach gesellte sich alle zwei Jahre ein weiterer Sprössling in den Kreis der Familie. Insgesamt zeugten die Wagners bis 1745 fünf Söhne und drei Töchter. Im Beruf stand Wagner fast 30 Jahre lang ebenso zuverlässig seinem Mann. Der Stadtkantor war geachtet und beliebt, nur mit seinem engsten Mitarbeiter, dem Organisten Georg Heinrich Gerlach, der als unverträglicher und streitsüchtiger Mensch beschrieben wird, kam er nicht zu Rande.
Nur finanziell sah es bei Georg Gottfried Wagner immer mau aus. Als er 1756 seinen letzten Atemzug getan hatte, hinterließ er seiner Frau ein bedrückendes Erbe: An Gespartem standen 427 Gulden, 14 Groschen und 5 Pfennige zu Buche, die Schulden betrugen 1.382 Gulden, 23 Groschen und 8 Pfennige. (PbK)
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2012-07-28