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Spitzengeschichten
  • Donnerstag, 10 Oktober 2013, 00:21 Uhr | Lesezeit ca. 11 Min.

Seuche der Onanie

Spitzengeschichte 45

250713 SpitzengeschichteLeicht war die Zeit im Plauener Lehrerseminar nicht für den Zögling Karl May. Die Studenten knüppelten im Unterricht, sangen in der Freizeit geschlossen im Kirchenchor, und selbst unter der Bettdecke kamen die Schulbeamten den Seminaristen auf die Schliche.

Papa Winnetou hatte Mist gebaut als Halbwüchsiger. Im zarten Alter von 17 ließ Karl May in der Weihnachtszeit sechs Talgkerzen mitgehen. Das genügte, um den Webersohn aus Ernstthal von der Waldenburger Schule zu schmeißen. Vor versammeltem Kollegium verkündete der Rektor der Lehrerbildungsanstalt, Dr. Schütze, am 28. Januar 1860 die Entscheidung. Ein peinlicher Augenblick! Das Kapitel Waldenburg war damit erledigt für den jungen May. Doch wie weiter? Seine Ausbildung zum Lehrer wollte er abschließen. Für diesen Beruf beschrieb der Verstoßene eine solche „Vorliebe“, dass es ihm „ unmöglich war, denselben aufzugeben“.

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Der Ernstthaler Ortspfarrer redete May wohl zu, sich mit einem Gnadengesuch an das sächsische Kultusministerium zu wenden. In Dresden ließ man Milde walten; der Antragsteller durfte sein Studium fortsetzen – allerdings an einem anderen Lehrerseminar. May bewarb sich im entfernteren Plauen, vermutlich aus rein praktischer Erwägung: In Plauen begann das Schuljahr zu Ostern (in Waldenburg zu Michaelis – 29. September), der Neue hätte also im Frühsommer 1860 nahtlos in der zweiten (zweithöchsten) Klasse weitermachen können.

So also bat der inzwischen 18-Jährige Anfang April 1860 den Plauener Seminardirektor Johann Gottfried Wild schriftlich in aller Form, ihn in seine Anstalt aufzunehmen. Wild zögerte zunächst, gab dann aber grünes Licht, nachdem der Waldenburger Direx sich für seinen Ex-Schützling verwendet und die Kreisdirektion Zwickau nichts gegen die Aufnahme in die zweite Klasse einzuwenden hatte. Sein Eintritt könnte „nach dem Schluß der Pfingstferien, also am 4. Juni, erfolgen“, erfuhr May gut eine Woche vor dem Termin per Post von seinem künftigen Direktor. Am 2. Juni hätte sich der Neuling zur Aufnahmeprüfung einzufinden, und „Logis in einem Privathause“ müsste er sich selbst suchen, da „im Seminargebäude (Schlafsaal – PbK) für Sie kein Raum vorhanden ist“. Die Eingangskontrolle bestand Karl May ohne Probleme, eine Unterkunft fand er in einer Dachkammer des Hauses der Plauener Freimaurerloge „Zur Pyramide“ in der Schustergasse. Dort wohnte er zehn Monate, ehe ein Internatsplatz frei wurde. Das letzte Kapitel der Lehrerausbildung konnte also beginnen für den Seminaristen Nr. 64. Unterrichtet wurden May und dessen Kommilitonen nach dem „Lehrplan für das Königliche Schullehrerseminar zu Plauen“, der seit 1857 galt. Die Stundentafel war erstaunlich vielseitig. Sie umfasste Religion und Katechetik (Religionspädagogik), Deutsch, Geographie, Geschichte, Naturkunde und Naturgeschichte, Rechnen, Raumlehre und Turnen. Dazu kam die künstlerisch-musische Unterweisung in Schönschreiben, Zeichnen und, mit Violine, Klavier, Orgel, Generalbass und Gesang recht umfangreich, Musik. Unterrichtslehre, also Pädagogik, wurde in den beiden oberen Klassen gegeben, darin eingeschlossen war Psychologie.

Neben der theoretischen Ausbildung schnupperten die Seminaristen der Klassen II und I auch schon Praxisluft. In einer dem Seminar angeschlossenen so genannten Übungsschule sollten sie „eine Anschauung von rechter Ausübung der Unterrichtskunst“ bekommen und sich „im Unterrichten und Schulhalten üben“, schrieb Direktor Wild in seinem 1861er Jahresbericht. Der Übungsschule gehörten zu Mays Plauener Zeiten etwa 100 Mädchen und Jungen aus armen Familien an.

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Die Lehrer-Azubis übten ihren späteren Beruf nicht zu knapp. Zehn bzw. neun Stunden saßen die beiden ältesten Jahrgänge des Seminars wöchentlich am Katheder. Dabei war das Unterrichten der kleinere Teil des Studiums. Im Winterhalbjahr 1860/61 leisteten May und seine Klassenkameraden ein Wochenpensum von insgesamt 44 Stunden, verteilt auf sechs Wochentage. Die erste begann früh um sieben (Sommerhalbjahr um sechs), die letzte endete abends um sechs.

Erschwert wurden die Lektionen durch die auch für damalige Verhältnisse mangelhaften Raumbedingungen am Plauener Seminar. In seinem Bericht an die Königliche Kreisdirektion Zwickau für das Jahr 1859 kritisierte Bezirksarzt Dr. Pfaff als gröbsten Missstand „das Eingepferchtsein der jungen Leute in die viel zu engen Schulstuben und das anhaltende, von früh bis Abends mit nur kurzen Unterbrechungen fortgesetzte Sitzen derselben auf den schmalen, engbeisammenstehenden Schulbänken in einer mit allerlei menschlichen Ausdünstungen imprägnierten Atmosphäre…“ In dem Zimmerchen von „zehn mal zehneinhalb Ellen“ (eine sächsische Elle = 0,566 Meter, also etwa fünfeinhalb mal sechs Metern), das sich die 21 Seminaristen der ersten und zweiten Klasse teilten, funzelten gerade mal drei Gasätherlampen. „Es gibt“, konstatierte der Doktor, „in den Arbeitszimmern Plätze, wo man nur mit der größten Anstrengung zu lesen im Stande ist, und die jungen Menschen, welche solche Plätze innehaben, sind wahrhaft zu bedauern.“

Mit einem Erweiterungsbau verbesserten sich ab 1863 die räumlichen Verhältnisse, doch da war Karl May schon nicht mehr in Plauen. Um die Gesundheit seiner Schützlinge machte sich Bezirksarzt Pfaff auch noch aus einem anderen Grund Sorgen.

Im Sommer 1860 notierte der Medikus, „dass durch das enge Beisammensein junger Leute sexuelle Verirrungen leicht einreissen“. Seine These publizierte er in einem Fachblatt, einem preußischen („ausländischen“) ausgerechnet, was ihm einen strengen Rüffel des Zwickauer Kreisdirektors (etwa zu vergleichen mit einem heutigen Regierungspräsidenten) einbrachte. Als der Doktor beteuerte, von den einzelnen Seminaristen alles aus erster Hand erfahren zu haben, wurde eine große Untersuchung in Gang gesetzt. Kirchen- und Schulrat Dr. Döhner eilte aus Zwickau herbei, „um über die durch den Bezirksarzt Dr. Pfaff daselbst zur Sprache gekommene Seuche der Onanie im dortigen Seminar genaue Erörterungen anzustellen“.

Zunächst befragte der Schulrat den Doktor, dessen Ausführungen Schlimmes befürchten ließen: Das „fragliche Übel (würde) in höchst beklagenswerter Weise unter einer großen Menge von Seminaristen herrschen“. Danach untersuchte der dienstliche Gast zusammen mit dem Stellvertreter des Direktors die Betten im Schlafsaal – und fand, man ahnt es schon, einige „befleckt“. Nun wurde der Seminarist Hantsche aus Mays Klasse ins Verhör genommen. Beschämt gestand der Bursche, dass „wohl die Hälfte des Semniars … der Onanie verfallen wäre“. Was tun? Bestrafen? Nicht doch meinte Schulrat Döhner. Er gedachte auf die Kraft der Milde und Überzeugung zu setzen, um der sittlichen Entgleisung Herr zu werden. Im Vertrauen auf das Gute im Menschen riet er Vize-Direktor Kühn, der gerade die Amtsgeschäfte führte, „unter Zuziehung der beßeren und unbefleckt gebliebenen Zöglinge so viel als irgend möglich auf die Rettung der Onanisten … hinzuwirken“. Ausgestanden war die „Onanie- Affaire“ (O-Ton Untersuchungsprotokoll) damit für die Schüler aber noch nicht. Die Schulleitung wollte es ganz genau wissen. Ziemlich entwürdigend stocherte man in der intimsten Sphäre der jungen Männer herum. Nach der Schnüffelei gaben die Kontrolleure dem Kultusministerum peinlich genauen Bericht, in dem sogar aufgelistet war, welche Seminaristen „das Laster schon bei ihrer Aufnahme an sich hatten u. es im Seminar länger oder kürzer forttrieben“. Unter „12.“ findet sich der Eintrag: „Und zwar haben dasselbe mitgebracht … aus der Schule zu Ernstthal u. dem Seminiar zu Waldenburg…“. Damit war, zweifelsfrei, Karl May gemeint.

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In den folgenden Wochen nahm sich das Lehrerpersonal seine Schäfchen seelsorgerisch vor, um das Gewissen der Fehlgeleiteten zu läutern. Die Überzeugungsarbeit schien zu fruchten – glaubten die Lehrer wenigstens. Ende November 1860 erklärten Kollegen dem Direktor, „daß, soweit menschliche Augen sehen, es besser geworden sein müßte und daß sich nur bei einzelnen noch aus momentaner Geistesabwesenheit in den Lectionen ein Schluß auf das Vorhandensein der Sünde machen lasse“. Selbstredend beteuerten auch die Schüler, wann immer es ein Lehrer hören wollte, „daß sie … sich fest vorgenommen hätten, sich nie wieder in dieser Art zu versündigen“.

Diesen schönen Erfolg meldete Direktor Wild in seinem Jahresbericht 1860 an die Kreisdirektion Zwickau, die wiederum beim Ministerium „höchst erfreut anzeigte, daß Wild und Kühn … eifrig bemüht gewesen sind, die der Onanie verfallenen Zöglinge zu retten und daß sie hoffen dürfen, die Mehrzahl der Verirrten sittlich gekräftigt zu haben“. Für die Schulobersten hatte sich die Sache damit erledigt.

Ging die Kontrolle nicht immer bis unter die Bettdecke, so herrschte am Seminar doch generell ein strenges Regiment. Was erlaubt war und vor allem was nicht, regelte eine umfassende „Haus- und Lebensordnung“. Anstand, Höflichkeit und „Sittenartigkeit“ im Umgang mit Lehrern und untereinander waren darin als allgemeine Verhaltensweisen ebenso gefordert wie der Verzicht auf „ungeziemende Ausdrücke“ und einer „rohe, bäurische Sprache“. Die angehenden Schulmänner hatten auf die Haltung des Körpers zu achten, „zerrissene Kleidungsstücke sofort abzulegen und auszubessern“ sowie „Schreien, Lärmen und Balgen im Hause“ zu vermeiden. Feierabend gab es zumindest für die Internatsschüler eigentlich nie. Reihum mussten sie als Wochner (eine Woche lang) die täglich anfallenden Arbeiten erledigen, wie: Waschwasser aus dem Brunnen holen, Trinkwasser im Speisesaal bereitstellen, die Lichter in den Unterrichtsund Schlafräumen anzünden und löschen, die Tafeln abwischen oder dafür sorgen, dass stets Kreide und Schwamm griffbereit lagen.

Mittags und abends aßen die Internatsbewohner gemeinsam im Speisesaal, woanders im Schulhaus durfte sich niemand beim Kauen erwischen lassen. Zum Abendessen konnten sich die Seminaristen ein Bierchen genehmigen, „Tabakrauchen und Branntweintrinken“ hingegen galt als absolutes Tabu.

Verboten war für die fast erwachsenen Männer selbst auch außerhalb des Seminars so einiges. Zum Beispiel legte die Hausordnung fest, dass „öffentliche Orte … an den Wochentagen nicht zu besuchen waren“. Welche Lokalitäten für einen Sonn- oder Feiertagsbesuch als unbedenklich erschienen, bestimmte das Lehrerkollegium. Nicht auf dem Index standen unter anderem die „Poppenmühle“, auch das „Tivoli“ und das „Felsenschlößchen“. Ebenfalls eines Seminaristen würdig erschien das „Restaurant zum Tunnel“, nur einen Steinwurf entfernt von Karl Mays privater Unterkunft. Seine Besuche dort muss der spätere Bestsellerautor in angenehmer Erinnerung behalten haben. In einer Szene der Erzählung „Der schwarze Mustang“ legt er dem sächsischen Westmann Hobble- Frank (hinkender Frank), als dem von Old Shatterhand Hasael Benjamin Timpe aus Plauen vorgestellt wird, offensichtlich sein eigenes Bekenntnis in den Mund: „Das freut mich ungeheuer, ja wirklich ungeheuer. Plauen is mir nämlich sehr ans Herz gewachsen, denn dort habe ich bei Anders (dem Wirt des Tunnel-Restaurants – PbK) im Glassalon mein schönstes Bier getrunken und meine besten Schweinsknöcheln á la Omelette gegessen; voigtländische Klöße, so grüngeknüffte, waren, gloobe ich, ooch dabei.“

Selbst am Sonntag stand für die Seminaristen vor dem Ausgang die Pflicht. Sie hatten am öffentlichen Vormittagsgottesdienst teilzunehmen. Tricksen brachte keinen Zeitgewinn, denn plötzliches Unwohlsein war für die Dauer des Betens und Predigens in der Krankenstube auszukurieren. Mitunter standen Karl May und seine Mitschüler auch vor den Kirchenbänken, da alle Seminaristen verpflichtet waren, im Singechor aufzutreten. Bei der Aufführung des Elias-Oratoriums von Felix Mendelssohn Bartholdy am 9. September 1860 in der Johanniskirche ließ ganz sicher auch Karl May seine Stimme erklingen. Was der junge Mann aus Ernstthal womöglich lieber tat als zu singen, war wandern. In seiner Erzählung „Weihnacht“ schildert May eine Fußwanderung, die er zusammen mit seinem Mitschüler Carpio (ein erfundener Name) unternahm. Die Tour führte von Rehau nach Böhmen, des „Geldkurses“ wegen (wie heute!), durch Asch, Eger, Tirschnitz, Gossengrün, Bleistadt und endet in Falkenau (Sokolow). Zwischendurch gab es es einen Abstecher per Schlitten zum Wallfahrtsort Maria Kulm.

Hat May seinen Jugendtrip später frei erfunden? Kaum zu glauben bei der exakten Ortskenntnis des Autors. Da liegt doch eher die Vermutung nahe, dass der Ausflug ins Fränkische und Böhmische im Winter 1860/61 tatsächlich stattgefunden hat.

Die Stunde der Wahrheit schlug für den Schulamtskandidaten May im September 1861: Abschlussprüfungen. Vier Tage wurden die zehn Examinanden der Oberklasse schriftlich und mündlich getestet. Aus Mays Gruppe fielen zwei durch, drei, darunter May, befand die Prüfungskommission „würdig …, das gesetzliche Zeugnis ihrer Candidatur zu erhalten“. Das Haupt- und ein Extrazeugnis über die musikalische Prüfung bekamen Karl May und die anderen Absolventen während einer Feierstunde am Freitag, dem 13. September 1861, überreicht. Der Ernstthaler bestand beide Prüfungen mit dem Prädikat „Gut“ und schloss fast alle Fächer mit dieser Note ab. In den Muttersprachdisziplinen „Aussprache und Leseton“ sowie „Rechtschreibung und Sprachlehre“ schaffte er sogar eine „1b“. Vorzeichen der späteren Profession? Im „Sittlichen Verhalten“ hingegen fiel der Absolvent May ein wenig ab. Seinen Studiengenossen attestierte Direktor Wild in dem Punkt seine „besondere Zufriedenheit“, bei May verzichtete der Schulvorsteher auf das Attribut. Der junge Mann aus einfachsten Verhältnissen hatte es geschafft, eine sichere Lehrerlaufbahn schien ihm bevorzustehen. May begann an der Armenschule Glauchau, nach nur elf Tagen flog er raus und landete im September 1862 wegen einer gestohlenen Uhr das erste Mal im Knast. Ein ruhiges Beamtendasein im Schoße des Staats hatte sich der spätere Erfinder von Winnetou und Old Shatterhand damit ein für alle Mal verbaut – zum Glück für seine Millionen Fans.

PbK/Dr. Rainer Petzold, unter Verwendung von: Hans- Dieter Steinmetz, „Plauen is mir nämlich sehr ans Herz gewachsen“, in: Karl-May-Haus-Information, Nr. 17, Hohenstein-Ernstthal 2003.

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2013-07-25

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